Sonntag Aktuell 12. 12. 2004

Die Welt in der Tüte

 
Alles hat seine Zeit. Auch wenn wir es kaum bemerken, hat die Tüte ob aus Plastik oder Papier- dieser Tage Hochzeit. Es wird gekauft und weggeschleppt. Der Künstler Thitz hat die vorweihnachtliche Stimmung auf sich wirken lassen und exklusiv für Sonntag Aktuell eines seiner Tütenbilder geschaffen. Eine Exkursion in die Welt der Tüten.

Was machen sie eigentlich mit der 159sten Tüte, die Sie bekommen haben, weil Sie mal wieder vergessen haben eine Tasche zum Einkauf mitzunehmen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie vielfältig die Einsatzmöglichkeiten dieses Behältnisses sind? In ihnen lässt sich Fertigsuppenpulver ebenso verstauen wie ein Brillenputztuch. Das ist alles nur eine Frage des richtigen Materials und des entsprechenden Know-hows. Hat die Verpackung einen Henkel kann man Tüte für Tüte sogar in aufwendigen Einkaufsorgien nach Hause tragen. Das ist dann echte Fleißarbeit, bei der Sammelwahn und Wirtschaftsaufschwung sogar Hand in Hand gehen.
Denn was passt nicht alles in eine Tüte? Eine eilig vorgenommene Stichprobe in einer beliebig ausgewählten deutschen Stadt würde jetzt in der Vorweihnachtszeit mit ziemlicher Sicherheit Folgendes erbringen: In einer Tüte verstaut man mühelos fünf , paar Socken oder einen Wintermantel oder vier Bücher oder einen repräsentativen Bildband im Schober. Ein Parfüm samt Bodylotion oder eine Packung gebrannter Mandeln würde sich wenn's knapp wird, auch mit einer kleinen Tüte begnügen. Ebenso wie ein Diamant, der ja bekanntlich mehr sagt als 1000 Worte.
Aber wie schon angedeutet, das ist der Weg sich zum Herrn über ein Tüten-imperium zu machen, das einem, wenn man nicht Acht gibt, ganz leicht über den Kopf wächst. Zwischen Mensch und Tüte gibt es keine so richtig gleichberechtigte Beziehung. Denn für die Tüte endet die Begegnung mit einem Menschen meist in der Einsamkeit. Je nach Naturell legt der Städter die Zeugen seiner Einkaufsexzesse gedankenlos irgendwo ab. Manchmal faltet er sie auch sorgfältig Kante auf Kante zusammen und stapelt sie in einem Schuhkarton. Oder er knüllt sie, als wolle er Spuren seines Shopping-exzesses verwischen, lieblos
   zusammen und verstaut sie in einer Schublade. Und vergisst sie. So hat die Mensch-Tüte-Beziehung natürlich



keine Zukunft.
Hat man jedoch wie Thitz, schon seit Jahren an seinem Ruf als Tütenkünstler gearbeitet, fliegen einem die Papiertüten von Macys und Bloomingdales, die Sandwich- tüten und Zuckerpäckchen aus Barcelona, Helsinki und Kairo ganz und gar erwünschtemaßen fast von alleine zu. Und bei einem Menschen wie Thitz, der seine Tüten mit einer überbordenden Fantasie immer wieder neu in Szene setzt, fühlt man sich als Plastik- oder Papierbehältnis mit Sicherheit deutlich besser aufgehoben als zurechtgestutzt in einem Schuhkarton.
Im Thitz'schen Atelier in Winter-bach, in dem er jetzt sitzt und sich wild die Haare rauft, steht ein Regal, das quillt schier über von den bunten Papier- und Plastiktüten. Sie sind nach Ländern sortiert. Eine echte Tütengemeinschaft. Manche sind lauter als die anderen. In einem knalligen Gelb leuchtet die österreichische Billa Tüte vorwitzig aus den anderen heraus. Thitz zieht eine türkisfarbene Tüte hervor. Der Schriftzug gefällt ihm. Tüten Sind für ihn Lebenselixier sie setzen Ideen frei. Und wenn man ihm so zuhört drängt sich einem der Eindruck auf, dass er noch viele Tüten braucht, um allen seinen Ideen Ausdruck zu verleihen. Wer Thitz kennt und schätzt, reicht an ihn weiter, was ihm sonst zufällig als Erinnerung an einen Einkauf irgendwann mal wieder in die Hände fällt. Galeristen sind das und Freunde. Nach New York reist Thitz grundsätzlich mit einem großen Koffer, den er mit Tüten füllt. In Barcelona, wo er Ende der 80er
   Jahre Stipendiat war, geht er immer in das gleiche Cafe, das Cafe Bou, und steckt die Zuckertütchen ein. In Ägypten oder Indien bewahrt er sorgsam die zum Teil aus Zeitungspapier geklebten Tüten auf, in denen dort Obst oder Gewürze verpackt werden.
Dabei war der Student Thitz Mitte der 80er Jahre nur auf der Suche nach einer anderen Mal- und Zeichengrundlage als dem weißen Zeichenblock. Der, das spürte er ganz genau, war ein weißes Etwas mit festem Format, das als Gegenstand gar nicht mehr wahr-genommen wurde. Und was macht der Student auf der Suche nach neuen Ideen? Er notiert sich die Sperrmulltermine im Kalender und zieht los, wenn die anderen überflüssigen Kram vor die Tür stellen. Als er das Bündel ausgemusterter Bäckertüten sah, war ihm schlagartig klar, dass er gefunden hatte, wonach er auf der Suche war. Tüten aller Art wurden von Stund an sein Skizzenblock.
Einer wie Thitz, der stets einen gelben und einen roten Schuh trägt, lebt seine Tütenfaszination ganz offen und unverbrämt. Sie wurde zu seinem Marken- und Erkennungszeichen. Doch die Tüte ist für ihn mehr als ein Gag. Diesen Gegenstand setzt Thitz nicht ohne Hintergedanken ein. Denn er birgt in all seinen Erscheinungsformen ein Geheim-nis. Oder wissen Sie immer so genau, was ihre Partnerin oder ihr Partner in der Tüte wieder in die Wohnung trägt? Das Mysterium des Tüteninnenlebens bleibt, auch wenn sie von außen noch so leuchtend strahlt. Das darf man durchaus programmatisch sehen für die Thitz'sche Arbeit. Die Welt besteht aus Verborge-nem und Sichtbarem, aus Gewesenem und Neuem. Inzwischen bemalt Thitz auf Leinwände gedruckte Fotografien und Landkarten, wie wir sie alle noch aus dem Erdkundeunterricht kennen. Der Teufel seiner Wirklichkeitsabbildung steckt
  im Detail und in den verborgenen Welten, die man nicht sehen muss. Alles ist vielschichtig.
   Vielleicht gehen Sie jetzt bewusster mit ihrer 160. Tüte um.
Hilke Lorenz



Info
• Thitz (geboren 1962) hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden
Künste in Stuttgart Malerei studiert: Seine ersten Tütenbilder stammen aus dem Jahr 1985 „The World of Thitz" heißt die Ausstellung, die noch bis zum 10. Januar in den Räumen der Stuttgarter Sparda Bank am Hauptbahnhof zu sehen ist.
Dort ist ab heute auch das oben abgebildete Bild gehängt.

Geöffnet ist heute und am nächsten Sonntag von 11 bis 17 Uhr. Thitz ist anwesend. Unter der Woche ist die Schau montags und donnerstags von 8.45 bis 18 Uhr, dienstag und mittwochs bis 16 Uhr und freitags bis 13 Uhr geöffnet.